Nachdem im Herbst 2019 die EU-Kommission Titandioxid in Pulverform als kanzerogen eingestuft hatte, hatten verschiedene Unternehmen aus der Farb- und Lackbranche gegen diese Verordnung geklagt. Jetzt im November 2022 entschied der europäische Gerichtshof (EuGH), dass Titandioxid zu Unrecht als kanzerogen eingestuft worden war und erklärte die Verordnung als nichtig.
In seiner Pressemitteilung Nr. 190/22 vom 23. November 2022 schrieb der EuGH dazu:
Das Gericht erklärt die Delegierte Verordnung der Kommission aus dem Jahr 2019 für nichtig, soweit sie die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid in bestimmten Pulverformen als karzinogener Stoff bei Einatmen betrifft
Die Kommission hat einen offensichtlichen Fehler bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit und der Anerkennung der Studie begangen, auf der die Einstufung beruhte, und hat gegen das Kriterium verstoßen, wonach sich diese Einstufung nur auf einen Stoff mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen, beziehen darf
Titandioxid ist ein anorganischer chemischer Stoff, der insbesondere in Form eines Weißpigments wegen seiner färbenden und deckenden Eigenschaften in diversen Produkten (von Farben über Arzneimittel bis hin zu Spielzeug) verwendet wird. 2016 legte die zuständige französische Behörde der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) den Vorschlag vor, Titandioxid als karzinogenen Stoff einzustufen1 . Im darauffolgenden Jahr gab der Ausschuss für Risikobeurteilung der ECHA (im Folgenden: RAC) eine Stellungnahme dahin ab, dass Titandioxid als karzinogener Stoff der Kategorie 2 mit dem Gefahrenhinweis „H351 (Einatmen)“ einzustufen sei.¹
Auf der Grundlage dieser Stellungnahme erließ die Europäische Kommission die Verordnung 2020/2172 , mit der sie die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid vornahm und feststellte, dass es sich dabei um einen Stoff handele, bei dem der Verdacht bestehe, dass er beim Menschen karzinogene Wirkung habe, wenn er in Pulverform mit mindestens 1 % Partikel mit aerodynamischem Durchmesser von höchstens 10 μm eingeatmet werde.
Die Klägerinnen haben in ihrer Eigenschaft als Herstellerinnen, Importeurinnen, nachgeschaltete Anwenderinnen und Lieferantinnen von Titandioxid beim Gericht Klage auf teilweise Nichtigerklärung der Verordnung 2020/217² erhoben.
Mit seinem Urteil in den drei verbundenen Rechtssachen³ erklärt das Gericht in der Besetzung einer erweiterten Kammer die angefochtene Verordnung für nichtig, soweit sie die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid betrifft. Dabei äußert es sich zu neuen Fragestellungen in Bezug auf offensichtliche Beurteilungsfehler und den Verstoß gegen die für die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung nach der Verordnung Nr. 1272/2008 festgelegten Kriterien, und zwar zum einen zur Frage nach der Zuverlässigkeit und Anerkennung der wissenschaftlichen Studie, auf der die Einstufung beruht, und zum anderen zur Frage, ob das in dieser Verordnung festgelegte Einstufungskriterium beachtet wurde, wonach es sich um einen Stoff mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen, handeln muss.⁴
Würdigung durch das Gericht
Erstens befindet das Gericht, dass im vorliegenden Fall das Erfordernis, dass die Einstufung eines karzinogenen Stoffes auf zuverlässigen und anerkannten Untersuchungen beruhen muss, nicht erfüllt ist.
Dem RAC unterlief nämlich ein offensichtlicher Beurteilungsfehler, als er feststellte, dass die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie, die er seiner Stellungnahme zur Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid zugrunde legte, hinreichend verlässlich, relevant und angemessen für die Bewertung des karzinogenen Potenzials dieses Stoffes seien. Konkret zog der RAC, um den Grad der Lungenüberlastung mit Titandioxidpartikeln in dieser wissenschaftlichen Studie für die Bewertung der Karzinogenität zu überprüfen, einen Dichtewert heran, der der Dichte der nicht agglomerierten Primärpartikel von Titandioxid entsprach, die stets höher ist als die Dichte der Agglomerate der Nanopartikel dieses Stoffes. Damit berücksichtigte er aber nicht alle für die Berechnung der Lungenüberlastung bei der fraglichen wissenschaftlichen Studie relevanten Gesichtspunkte, nämlich die Eigenschaften der in dieser Studie getesteten Partikel, den Umstand, dass diese Partikel dazu neigten, Agglomerate zu bilden, sowie den Umstand, dass die Dichte von Partikelagglomeraten geringer ist als die Partikeldichte und diese Agglomerate deshalb mehr Volumen in den Lungen belegen. Seine Schlussfolgerung, dass die Lungenüberlastung bei dieser Studie annehmbar gewesen sei, ist daher nicht plausibel.
Folglich hat die Kommission denselben offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen wie der RAC, soweit sie zum Zwecke der harmonisierten Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid die angefochtene Verordnung auf die Stellungnahme des RAC gestützt hat und mithin seiner Schlussfolgerung hinsichtlich der Zuverlässigkeit und Anerkennung der Ergebnisse der fraglichen wissenschaftlichen Studie, die für den Vorschlag zur Einstufung von Titandioxid maßgeblich war, gefolgt ist.
Zweitens stellt das Gericht fest, dass die angefochtene Einstufung und Kennzeichnung gegen das Kriterium verstoßen hat, wonach sich die Einstufung eines Stoffes als karzinogen nur auf einen Stoff mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen, beziehen darf.
In diesem Zusammenhang legt das Gericht den Begriff „intrinsische Eigenschaften“ aus und berücksichtigt dabei, dass die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung eines Stoffes als karzinogen nach der Verordnung Nr. 1272/2008 nur auf den intrinsischen Eigenschaften des Stoffes beruhen darf, die seine Eigenschaft begründen, für sich genommen Krebs zu erzeugen. Insoweit erläutert es, dass dieser Begriff, auch wenn er in der Verordnung Nr. 1272/2008 nicht enthalten ist, in seinem wörtlichen Sinne dahin auszulegen ist, dass er die „Eigenschaften eines Stoffes, die ihm eigen sind“, bezeichnet; dies steht im Einklang mit den Zielen und dem Zweck der harmonisierten Einstufung und Kennzeichnung gemäß dieser Verordnung.
Darüber hinaus stellt das Gericht fest, dass mit der angefochtenen Einstufung und Kennzeichnung eine Gefahr der Karzinogenität von Titandioxid identifiziert und kommuniziert werden soll, die in der Stellungnahme des RAC als „nicht intrinsisch im klassischen Sinn“ eingestuft wurde. Diese „nicht im klassischen Sinn intrinsische“ Natur ergibt sich aus mehreren Gesichtspunkten, die sowohl in der Stellungnahme als auch in der angefochtenen Verordnung genannt sind. Denn die Gefahr der Karzinogenität besteht nur in Verbindung mit bestimmten lungengängigen Titandioxidpartikeln, wenn sie in einem bestimmten Aggregatzustand, einer bestimmten Form, einer bestimmten Größe und einer bestimmten Menge vorhanden sind; sie zeigt sich nur bei einer Lungenüberlastung und entspricht einer Partikeltoxizität.
Das Gericht gelangt daher zu dem Ergebnis, dass die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, indem sie der Schlussfolgerung in der Stellungnahme des RAC gefolgt ist, wonach die Wirkungsweise der Karzinogenität, auf die sich dieser Ausschuss stützte, nicht als eine intrinsische Toxizität im klassischen Sinn angesehen werden könne, die aber im Rahmen der harmonisierten Einstufung und Kennzeichnung gemäß der Verordnung Nr. 1272/2008 zu berücksichtigen sei.
Die zum Vergleich mit der Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid angeführten Beispiele der Einstufung und Kennzeichnung anderer Stoffe veranschaulichen nach Auffassung des Gerichts nur Fälle, in denen zwar Form und Größe der Partikel berücksichtigt wurden, aber dennoch bestimmte Eigenschaften, die diesen anderen Stoffen eigen sind, für ihre Einstufung ausschlaggebend waren, was dem vorliegenden Fall nicht entspricht.
¹Vorschlag zur harmonisierten Einstufung und Kennzeichnung, vorgelegt gemäß Art. 37 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen, zur Änderung und Aufhebung der Richtlinien 67/548/EWG und 1999/45/EG und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (ABl. 2008, L 353, S. 1).
²Delegierte Verordnung (EU) 2020/217 der Kommission vom 4. Oktober 2019 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen zwecks Anpassung an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt und zur Berichtigung der Verordnung (ABl. 2020, L 44, S. 1, im Folgenden: angefochtene Verordnung).
³T-279/20, T-283/20 und T-288/20.
⁴In Anhang I Abschnitt 3.6.2.2.1 der Verordnung Nr. 1272/2008 genannte Kriterien.
Zur gesamten Pressemitteilung Nr. 190/22 des EuGH vom 23. November 2022
Zum Volltext des Urteils und seiner Zusammenfassung
Quelle: https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2022-11/cp220190de.pdf (zuletzt aufgerufen am 15.12.2022)